Zehn Jahre "Hartz IV" in Bielefeld

von Venne Media

Zeit für eine Bilanz

Seit dem 1. Januar 2005 setzen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt Bielefeld und der Agentur Bielefeld gemeinsam die Grundsicherung für erwerbsfähige Arbeitssuchende um, besser bekannt als „Hartz IV“ – zuerst in der ARGE, seit 2011 im Jobcenter Arbeitplus. Die Arbeitsmarktreform und ihre Auswirkungen sind auch heute noch umstritten, das Sozialgesetzbuch II wenig bekannt. Der Geschäftsführer des Jobcenters Arbeitplus Bielefeld, Rainer Radloff, der Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld, Pit Clausen, und der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Bielefeld, Thomas Richter, beziehen Stellung. 

 Viel bewegt

Insgesamt sind in den vergangenen zehn Jahren in Bielefeld zwei Mrd. Euro für die Grundsicherung der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ausgegeben worden. Fast ein Drittel davon wurde von der Kommune aufgebracht (649,4 Mio. €).

-          Leistungen zum Lebensunterhalt: 795 Mio. € (Bundesmittel),

-          Leistungen für Unterkunft und Heizung: 785 Mio. € (kommunal finanziert: 578 Mio. €)

-          Einmalige Beihilfen (kommunal finanziert): 35,7 Mio. €

-          Eingliederungsleistungen: 276 Mio. €

-          Verwaltungsbudget: 185 Mio. € (davon 35,7 Mio. € kommunaler Finanzierungsanteil der Stadt Bielefeld)

Aktuell werden ca. 168 Mio. € Leistungen an Kundinnen und Kunden ausgezahlt. Bei 140 Beschäftigten in der Leistungsgewährung ist jede Sachbearbeiterin bzw. jeder Sachbearbeiter für durchschnittlich 1,2 Mio. € jährlich verantwortlich.

Viel verändert

Die Grundsicherung startete mit 19.643 Bedarfsgemeinschaften im Jahresdurchschnitt 2005 und hatte ihren Höchststand mit 20.265 Bedarfsgemeinschaften im Jahr 2006. Heute sind es 18.492. In diesen Bedarfsgemeinschaften leben aktuell rund 36.300 Personen.

Betrachtet man die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, reduzierte sich die Zahl von 26.429 im Jahresdurchschnitt 2005 bis heute um 1.189 auf 25.241. (Bei den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten werden auch Personen mitgezählt, die dem Arbeitsmarkt aktuell nicht zur Verfügung stehen, beispielsweise weil sie Kinder unter drei Jahren betreuen oder Angehörige pflegen.)

Waren im Jahr 2005 in der Stadt Bielefeld noch durchschnittlich 15.907 Menschen von Arbeitslosigkeit im SGB II betroffen, sind es im Jahr 2014 durchschnittlich 11.822 Menschen. Dies entspricht einem Rückgang um 4.085 Arbeitslose oder 25,6 Prozent.

Ein weiteres großes Thema ist der Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II. Im Jahr 2007 waren rund 7.500 Menschen in Bielefeld länger als 1 Jahr arbeitslos. Bis heute hat sich dieser Wert um knapp 1.800 auf gut 5.700 Personen verringert.

Das SGB II hat an Bedeutung gewonnen. Heute werden ¾ aller Arbeitslosen vom Jobcenter betreut. 

Viel erreicht

In den vergangenen zehn Jahren erreichte das Jobcenter Arbeitplus Bielefeld jährlich durchschnittlich 6.000 Integrationen in Arbeit. 14.000 von diesen 60.000 entfallen auf den Bereich der unter 25jährigen. Trotz eines prekären Arbeitsmarktes für die meist ungelernten Kundinnen und Kunden in der Grundsicherung waren ca. 60% der Integrationen nachhaltig, d.h. die vermittelten Kundinnen und Kunden befanden sich auch ein Jahr später in Arbeit.

„Diesen Zahlen liegen funktionierende Strukturen zugrunde. Das Jobcenter Arbeitplus Bielefeld als größter Arbeitsmarktakteur in Ostwestfalen nutzt seine Arbeitsmarktinstrumente und ist gut vernetzt - mit Arbeitgebern, Trägern und Behörden.“ sagt Rainer Radloff, Geschäftsführer des Jobcenters Arbeitplus Bielefeld. „Zu erklären ist der Erfolg aber vor allen Dingen durch die hoch motivierten und gut qualifizierten Beschäftigten im Jobcenter, die in all den Jahren trotz einer hohen Arbeitsbelastung hervorragend gearbeitet haben.“

Kritik an der Grundsicherung für erwerbsfähige Arbeitssuchende

Der Begriff „Hartz IV“, mit dem vereinfachend nicht nur die Grundsicherung für erwerbsfähige Arbeitssuchende sondern auch häufig prekäre Beschäftigungs- und Lebenssituationen beschrieben werden, ist zehn Jahre nach Inkrafttreten des SGB II eindeutig negativ besetzt. Das schlechte Image betrifft gleichermaßen die Menschen, die von Arbeitslosengeld II abhängig sind, wie auch die Jobcenter, die die Existenz von über 6 Mio. in Deutschland sichern.

Angemessene Förderung aller Kundinnen und Kunden?

Die Jobcenter werden kritisiert, sich vor allem auf marktnahe „Vermittlungskunden“ zu konzentrieren und Personen mit größeren Vermittlungshemmnissen zu vernachlässigen. In Bielefeld wurden ausgehend von den Erfahrungen der Vorgänger- bzw. Quellorganisationen Agentur für Arbeit, Stadt Bielefeld und REGE mbH von Beginn alle Zielgruppen in den Fokus genommen. Obwohl durch 2 große Instrumentenreformen (2009 und 2012) sich einzelne Förderinstrumente verändert haben und andere gestrichen wurden, blieb die Verteilung der Angebote in den vergangenen 10 Jahren gleich. Dabei sind die integrationsorientierten Instrumente besonders kostenaufwendig. Sie machten im Jahr 2014 10,7 Mio. € aus. Für Beschäftigung schaffende Maßnahmen waren es 2,4 Mio. €. 1,6 Mio. € wurde in Maßnahmen investiert, die ausschließlich unter 25Jährigen vorbehalten waren. 900.000 € schließlich wurden für berufliche Reha-Maßnahmen und Schwerbehinderten-Förderung aufgewendet.

Vor Probleme stellen das Jobcenter die sinkenden Mittel für Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote. Von einem Eingliederungstitel in Höhe von 33,7 Mio. € 2009 sind diese auf 20,74 Mio. € für 2015 zurückgegangen. Diese Senkung steht nicht im Verhältnis zum Rückgang der Kundenzahlen, sondern ist erheblich größer.

Zunahme von Armut?

Grundsätzlich bedeutete die Überführung von Sozialhilfe in das Arbeitslosengeld II  vor 10 Jahren für den Großteil der Betroffenen eine finanzielle Verbesserung. Zudem ist die Zahl der Leistungsbezieherinnen und Leistungsbezieher in den letzten 10 Jahren gesunken. Über eine angemessene Höhe der Transferleisten lässt sich streiten. Während sie einerseits eine angemessene Existenz und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen muss, ist es gerade für Ungelernte, die den Großteil der SGB-II-Kunden ausmachen, kaum möglich ein gleichwertiges Einkommen zu erzielen.

Dies wird durch die Politik entschieden. Auf der lokalen Ebene gilt: Die Jobcenter kämpfen durch Vermittlung in tragfähige und nachhaltige Arbeit gegen Arbeitslosigkeit und damit gegen Armut. Ihre Aufgabe ist es auch, die Einhaltung von Tarif- und Mindestlöhnen zu überprüfen.

Vernachlässigung der Langzeitbezieher?

Die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit zu überwinden, bleibt die größte Herausforderung. Zwar ist die Zahl der Langzeitbezieher in Bielefeld um 1.800 gesunken, jedoch sind noch immer über 40 % aller Kunden länger als 4 Jahre im Leistungsbezug. Geplant sind deshalb verstärkte Aktivitäten für diese Zielgruppe und die Beteiligung am kommenden Bundesprogramm.

Überwachung von Leistungsbeziehern?

Es gibt in Bielefeld – wie in den meisten Jobcentern – keine Sozial-Sherriffs. Der Außendienst wird nur im konkreten Einzelfall eingeschaltet und hat vor allem die Aufgabe hinsichtlich Wohnraum und Einmalleistungen zu beraten.

Konflikte

Auch im Jobcenter Arbeitplus Bielefeld gibt es Konflikte. Angesichts von ca. 50.000 Menschen, die jährlich von der Behörde beraten werden, ist dies nicht auszuschließen. Aber offensichtlich funktionieren die Arbeitsbeziehungen zwischen Beratungskräften und Kunden gut, denn das Jobcenter in Bielefeld verhängt – auch im Bundesvergleich – wenig Sanktionen. Wenn Leistungen gekürzt werden, dann zu allererst aufgrund nicht eingehaltener Termine, sog. Meldeversäumnissen. Im letzten Berichtsmonat (September 2014) wurden 244 Sanktionen (davon 204/83,6% aufgrund von Meldeversäumnissen) ausgesprochen – bei insgesamt 24.965 Leistungsberechtigten. Zu diesem Zeitpunkt waren Sanktionen gegenüber 393 Leistungsbeziehern wirksam, das sind 1,6 %. Mit anderen Worten: Der Anteil der Kunden ohne  Sanktionen entspricht 98,4 %.

2014 lag die Zahl der Widersprüche bei 2.189. Dem gegenüber stehen ca. 250.000 leistungs- und eingliederungsrelevante behördliche Entscheidungen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jobcenters Arbeitplus Bielefeld Jahr jedes Jahr treffen. Dies entspricht einer Widerspruchsquote von 0,9%.

Herausforderungen

Besondere Ziele für 2015 sind:

-          Die Senkung der Jugendarbeitslosigkeit von 6,9% auf 6,7% im Jahresdurchschnitt

-          Die Senkung der Langzeitarbeitslosigkeit -0,6% 16.412 statt 16.511 im Jahresdurchschnittswert

-          Aktivierung von langzeitarbeitslosen Yeziden und der Aufbau eines Modellprojektes

-          Die Entwicklung einer Willkommenskultur für neue Flüchtlinge

Aufgrund der gesunkenen Eingliederungstitel sowie positiver Erfahrungen in den Niederlanden wird das Jobcenter verstärkt selbst Maßnahmen zur Orientierung und Vermittlung durchführen. Vorreiter sind die erfolgreichen Projekte WORK FIRST und WORK & EDUCATION FIRST.

„10 Jahre – blicken wir zurück, so können wir einige Erfolge verzeichnen“, zieht Thomas Richter, Vorsitzender der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Bielefeld, Bilanz. „Doch künftig warten noch viele Herausforderungen auf uns. Der Schwerpunkt ist die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Hier arbeiten wir zum einen daran, die sich verfestigenden Strukturen aufzubrechen, zum anderen setzen wir alles daran, das Nachwachsen in die Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Das beginnt bereits mit einer intensiven Berufsvorbereitung in der Schule, das Angebot von Ausbildungsplätzen und die Unterstützung beim Übergang in eine Beschäftigung.“ 

Kernzahlen zum Jobcenter Arbeitplus Bielefeld

  • SGB-II-Leistungsberechtigte

36.669

  • Bedarfsgemeinschaften

18.682

  • Arbeitslose im SGB II

11.724

  • Arbeitslosenquote gesamt

9,3%

  • Arbeitslosenquote SGB II

7,0%

  • Anteil Arbeitslose im SGB II

75,6%

  • Anzahl Mitarbeiterinnen & Mitarbeiter

493

  • Anteil Mitarbeiterinnen & Mitarbeiter in Teilzeit

22,6 %